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 Kirchensterben - Deutschland schleift seine Gotteshäuser

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BeitragVerfasst am: 30.08.2005, 16:51    Kirchensterben - Deutschland schleift seine Gotteshäuser Antworten mit ZitatNach oben

Kirchensterben - Deutschland schleift seine Gotteshäuser
Von Wolfgang Pehnt

29. August 2005 Nichts ist mehr, wie es war, auch wenn es manchmal noch so scheint. Das sagt nicht ein außenstehender Beobachter der Kirchen, sondern Ruhrbischof Felix Genn.

Anfang des Jahres fuhr er vor den Priestern und Diakonen seiner Diözese fort: Die Kirche habe ihr Monopol als lebensorientierende Instanz verloren. Von einer religiösen Schicksalsgemeinschaft, in die man unentrinnbar hineingeboren wurde, sei sie zum Anbieter auf dem Markt von Religion und Lebenssinn geworden. Die Tatsachen scheinen für sich zu sprechen: Die Zahl der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher geht kontinuierlich zurück, die Kirchensteuern ebenso. Die Haushaltslage der Diözesen ist desolat. Pfarrgemeinden werden zusammengelegt, Mitarbeiter entlassen. Und es werden Kirchengebäude geschlossen, verkauft oder abgerissen. Was die „Handreichung” der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, die sich vor zwei Jahren mit der Umnutzung von Gotteshäusern beschäftigte, noch als Ultima ratio bezeichnete, entwickelt sich zum fast alltäglichen Fall.

Ein Höhepunkt im Werk

Eben traf es St. Raphael im Berliner Vorort Gatow, den einzigen Sakralbau, den der große Kirchenbauer Rudolf Schwarz für Berlin entworfen hatte und der einem Supermarkt Platz machen mußte. Schon liegt die Abrißgenehmigung für St. Johannes Capristan in Tempelhof vor, einen Bau von Reinhard Hofbauer, den bisher die polnische Gemeinde nutzte. Für September ist in St. Agnes in Kreuzberg ein „Entwidmungsgottesdienst” anberaumt, mit dem sich die katholische Kirche von ihren Kultstätten verabschiedet. Im Werk des Architekten Werner Düttmann stellt - oder muß man schon sagen: stellte? - St. Agnes einen Höhepunkt dar.

Die karge Baugruppe aus Blöcken und Würfeln wird vom geschlossenen Quader des basilikalen Kirchenschiffs und einem kopflastigen Turm überragt. Innen rieselt das Licht aus verborgenen Oberlichtern und hohen Fensterschlitzen über den Rauhputz: ein Baukunstwerk. Verkauf und Abriß stehen bevor. In Köln geht das Gerücht, St.Gertrud solle verkauft werden, der Bau, mit dem Gottfried Böhm die gloriose Reihe seiner asymmetrischen Betonfaltwerke begann. Seine Kirche St.Ursula in Hürth-Kalscheuren wurde bereits profaniert. Dasselbe Schicksal ereilte Kirchen von Emil Steffann und Hans Schilling, renommierten Kirchenbauern der fünfziger und sechziger Jahre. Es trifft auch die besten - gerade die besten.

Ein Hauptwerk des Expressionismus

Von dem Verlust, der die deutsche Kulturlandschaft bedroht, hat sich die Öffentlichkeit noch keine Vorstellung gemacht. Ein Bildersturm fegt über das Land. Die Ruhrdiözese, die ihre Probleme mit größerer Offenheit darlegt als andere Kirchenprovinzen, erklärt, sie werde sich von einem Drittel ihrer Kirchen trennen müssen. Auf der Liste stehen ein Hauptwerk des deutschen Expressionismus, Heilig Kreuz in Gelsenkirchen-Ückendorf von Josef Franke; die wehrhafte Kirche St. Engelbert in Essen, die Dominikus Böhm in den dreißiger und fünfziger Jahren gebaut hat; und nicht weniger als drei bedeutende Bauten von Rudolf Schwarz, Heilige Familie in Oberhausen, St. Anna in Duisburg und Heilig Kreuz in Bottrop.

Daß gleichzeitig für Stätten kirchlicher Eventkultur Millionen Euro aufgebracht werden, nicht aber ein Bruchteil dieser Summe für vorhandene Orte der Einkehr und Andacht, zeigt die Verlagerung von Prioritäten. Für eine einzige Vigil und eine einzige Messe, die der Papst auf dem Braunkohlenfeld bei Kerpen gefeiert hat, wurde ein gewaltiges Erdbauwerk errichtet. Mit einem Fünfundzwanzigstel der einhundert Millionen Euro, die der Weltjugendtag Kirche, Staat, Land und Stadt kostete, wäre St.Agnes in Berlin zu retten.

Widerstandslos niedergerissen

Daß Kirchenmauern widerstandslos niedergerissen werden, hat auch mit der bedächtigen Prozedur der Unterschutzstellung zu tun und mit der Unlust der Baupolitiker, auf ihre Denkmalpfleger zu hören. Die Kirche in Gatow fiel drei Tage bevor der Berliner Landesdenkmalrat zusammentrat, um über ihre Qualifikation als Denkmal zu beraten. Über diesen Vorgang wäre man gern detaillierter unterrichtet. Immerhin sieht das Berliner Denkmalschutzgesetz einen vorläufigen Schutz vor, wenn Entscheidungen solcher Art anstehen. Warum wurde er nicht ausgesprochen?

St. Raphael, St. Johannes Capristan, St. Agnes und ihre Zeitgenossen sind auch Opfer von Epochen-Vorurteilen. Gewöhnlich gilt die Regel, eine Generation müsse verstreichen, bevor ein Bauwerk gerecht eingeschätzt und als denkmalwürdig erkannt werde. Diese Frist ist im Falle der Bauten aus den sechziger Jahren längst verstrichen, ohne daß es ihrer Beurteilung zugute gekommen wäre. Noch immer gelten Produkte dieser Periode als brutal und rücksichtslos. Es wird Zeit, sich klarzumachen, daß auch diese Epoche große Architektur hervorgebracht hat. In den Massensiedlungen jener Jahre behaupteten sich die Kirchen mit strenger Selbstgewißheit, boten in ihrer Verschlossenheit aber auch Schutzräume gegen ihr unwirtliches Umfeld. In den hochgemuten Baufiguren verkörperte sich die Kreativität, die sich in den Trabantensiedlungen und Kommerzbauten der Innenstädte verloren hatte.

Anfällige Betonkonstruktionen

Bauwerke gerade dieser Jahre sind in jenes Alter eingetreten, in dem sie generalüberholt werden müssen. Oft sind es anfällige Betonkonstruktionen. Wo die Eimer im Seitenschiff stehen, weil das Dach tropft, rücken auch bald die Bagger an. Gewiß ist es für Denkmalpfleger schwierig, hier jene öffentliche Zustimmung zu mobilisieren, ohne die sie nicht arbeiten können. Aber zum Diener populärer Vorurteile müssen sie sich nicht machen. Wozu haben sie ihren kunsthistorischen Sachverstand, ihre Vergleichsmöglichkeiten, ihre Urteilsfähigkeit? Offensichtlich übt die verhängnisvolle Attacke, die vor fünf Jahren der Berliner Publizist Dieter Hoffmann-Axthelm im Dienst seiner grünen Auftraggeberin Antje Vollmer gegen die angeblichen Anmaßungen des Denkmalschutzes angezettelt hat, noch immer bei den Baupolitikern ihre einschüchternde Wirkung aus.

Es trifft alle Epochen, die alten Dorfkirchen, das neunzehnte Jahrhundert. Aber vor allem trifft es die Nachkriegszeit. Das hat nicht nur mit dem Erhaltungszustand zu tun, sondern auch mit Konzepten. Wo die Grundstücke der Gemeindezentren vor der Stadt reichlich bemessen waren, wachsen heute in den ausufernden Streubebauungen Begehrlichkeit und kommerzielle Vermarktbarkeit. Auf der anderen Seite entwickelte sich bei manchen Gemeinden Skepsis gegenüber den Raumformen, die im Umfeld des Zweiten Vatikanums entstanden waren. In überkommenen Bautypen hatte sich noch immer eine Nische für den kleinen Werktagsgottesdienst finden lassen, in den allseitig auf den Altar konzentrierten, nachkonziliaren Sakralräumen nicht. Auch Investoren, die profane Zwecke im Sinne haben, finden alte Bauten flexibler als Kirchen der späteren Liturgiereformen.

Eine Kulturschicht droht wegzubrechen

Darüber droht eine ganze Kulturschicht wegzubrechen. Verloren geht ein selbstbewußter, manchmal auch mit Härte auftretender Zeitstil, der sich nach den spielerischen Gefälligkeiten der Wirtschaftswunderjahre entschlossen den Aufgaben einer Massengesellschaft zuwandte. Sakralbau stellte in den späteren fünfziger und in den sechziger Jahren die leitende Bauaufgabe dar. Rathäuser und Theater waren wieder aufgebaut. Aber in den Bistümern durften die Oberhirten jeden Sonntag zu einer neuen Kirchweihe fahren. So viel, wie damals gebaut wurde, läßt sich heute nicht erhalten. Um so wichtiger ist es, daß endlich die seelsorgerischen und die baukulturellen Argumente geprüft und sortiert werden, daß überzeugende Kriterien für Bewahrung oder Verzicht gewonnen werden.

Das Problem gehört nicht nur in die Baugeschichte. Mit jeder Kirche fällt ein Stück Identität des Ortes, geht Erinnerung ihrer Bewohner verloren. Darüber zu entscheiden darf nicht nur Sache von Landeskirchenämtern sein. Erhalt oder Nichterhalt darf nicht davon abhängen, wie gut oder schlecht eine Diözese gewirtschaftet hat. Zeit muß das erste sein, was den Gemeinden, den Denkmalpflegern und möglichen Interessenten eingeräumt wird, um zu einer rettenden Lösung zu kommen. Er sei heute froh, daß die barocke Parochialkirche lange Jahre als Möbellager gedient habe, meint der Berliner Landeskonservator Jörg Haspel. So kam ihre erhaltene Substanz wenigstens über die Zeiten.

Kein Bordell im Kirchenraum

Daß ungenutzte Gotteshäuser an Käufer übergehen sollten, die eine würdige Nutzung versprechen, lag auf der Hand; kein Bordell in einem ehemaligen Kirchenraum. Aber bei verschärfter Lage muß man die Kriterien liberaler fassen. So viele Kulturhäuser, Bürgerzentren und Museen gibt es nicht, wie nötig wären, um die abhanden gekommenen Inhalte anspruchsvoll zu ersetzen. Schon heute dienen ehemalige Kirchenbauten vielen profanen Zwecken. In der Trierer Abteikirche St. Maximin wird seit einem Jahrzehnt Korbball gespielt und geturnt; benachbarte Schulen verwenden sie als Sporthalle. Das unvollendete Alterswerk des großen Brunelleschi in Florenz, Sa. Maria degli Angeli, bekommt nur zu Gesicht, wer seinen Bankgeschäften nachgeht. Sollen Bauten gerettet werden, muß man sich mit ihrer Profanierung abfinden.

Und mit einer Zukunft auch dort, wo sie der eigenen Tradition widerstreitet. Doch die Leitlinien der Bischofskonferenzen schließen kategorisch die Übergabe überzähliger Kirchen an nichtchristliche Glaubensgemeinschaften aus. Man wird den Eindruck nicht los, dem gekränkten Stolz einer zweitausendjährigen Institution würden ihre eigenen Kulturdenkmäler geopfert. Lieber wird ein Bau preisgegeben als einer anderen Religion überlassen. „Wegen der Symbolwirkung einer solchen Maßnahme nicht möglich”, läßt der Kölner Kardinal Meisner wissen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands formuliert es ähnlich. Wären frühere Jahrhunderte ähnlich rigoros verfahren, gäbe es weder die Hagia Sophia in Istanbul noch die Moschee von Cordoba.

Da nichts mehr ist, wie es war, müssen die Gemeinden lernen, sich auf ihre neue Diaspora-Situation einzulassen: nur kleine Raumteile noch nutzen, wenn das Ganze nicht mehr zu bewirtschaften ist. Lange Bedenkzeiten bei der Suche nach anderen Nutzungen einräumen. Und wenn Nutzungsphantasie und Verhandlungsgeschick auf Dauer nicht fruchten, wäre dann nicht zu handeln, wie frühere Jahrhunderte gehandelt haben? Nämlich ein Bauwerk stillzulegen statt es abzuräumen. Es zu schließen und zu sichern. Gelegentlich Wallfahrten zu den aus dem Gebrauch gefallenen Sakralstätten zu organisieren. Notfalls die Natur ihr Werk verrichten zu lassen. Den Verfall planend zu begleiten. Ruinen binden Erinnerung auf lange Zeit. Erinnerung angesichts eines lädierten Bestandes ist allemal besser als der bald vergessene Totalverlust.

Text: F.A.Z., 30.08.2005, Nr. 201 / Seite 35

Originalartikel: http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~ECD330B554DB84AFF8BE2E0122AFD8392~ATpl~Ecommon~Scontent.html

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